Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt, BRD (DVD), 1971
Regie: Rosa von Praunheim
Mit Bernd Feuerhelm, Berryt Bohlen, Ernst Kuchling, Manfred Salzgeber, Volker Eschke
Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt ist ein im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks gedrehter Film von Rosa von Praunheim. Der Film feierte 1971 seine Uraufführung bei den Internationalen Filmfestspielen von Berlin. 1972 wurde er u. a. im Rahmen der Documenta 5 in Kassel aufgeführt. Im selben Jahr hatte Nicht der Homosexuelle ist pervers ... seine US-Premiere im Museum of Modern Art in New York City, in Großbritannien wurde der Film erstmals (ebenfalls 1972) im National Film Theatre in London gezeigt.
Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt wurde zum Auslöser der modernen deutschen Lesben- und Schwulenbewegung. Der Film hatte nicht nur direkte gesellschaftspolitische Auswirkungen in der Bundesrepublik zur Folge, sondern auch eine beachtliche internationale Wirkung: „Sein [Rosa von Praunheims] epochaler Dokumentarfilm Nicht der Homosexuelle ist pervers ... gilt seit langem als maßgeblich für die Etablierung der schwulen Befreiungsbewegung in Deutschland und als Katalysator für Befreiungsbewegungen weltweit.“ (Cerise Howard, Filmhistorikerin und Kuratorin des Australischen Filmmuseums)
In dem Film wird am Beispiel der Protagonisten das Leben vieler homosexueller Männer Anfang der 1970er Jahre in der schwulen Subkultur in Berlin und im Privaten dargestellt und behandelt. Der Film richtet sich nicht primär an die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft, wie der Titel vermuten lässt, sondern an die Homosexuellen selbst. Eine zentrale These des Films ist: Die schlechte Situation der Homosexuellen, in der sie leben, haben sie mit zu verantworten. Tenor des Films ist, dass Homosexuelle ihre Angst und Ohnmacht überwinden und aus ihren „Verstecken“ herauskommen sollten, um sich zu organisieren, sich gegenseitig zu unterstützen und solidarisch für eine bessere, gleichberechtigte Gesellschaft zu kämpfen. Die Aussagen und Forderungen des Films beziehen sich auch auf die Agenda und Analyse der Drehbuchautoren. Der Film wurde als Stummfilm gedreht und erst nachträglich mit Dialogen sowie sozialkritischen und provokanten Kommentaren unterlegt, um einen Abbruch der Dreharbeiten durch Produktionsverantwortliche selbst zu vermeiden. In dem Film kommt es auch zum ersten Kuss zwischen zwei Männern, der im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde.
Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt wurde u. a. an vielen renommierten Universitäten gezeigt, z. B. an der Universität von Kalifornien in Berkeley und an der Universität von Pennsylvania, und ging in diverse wissenschaftliche Arbeiten und Publikationen ebenso renommierter Universitäten ein, z. B. der Stanford-Universität und der Oxford-Universität.
Anlässlich seines 50-jährigen Bestehens am 3. Juli 2021 wurde der Film, der schon oft im Fernsehen wiederholt wurde, zusammen mit der TV-Publikumsdiskussion zum Film (von 1973) im WDR ausgestrahlt. Das Museum of Modern Art in New York City streamte zum Jubiläum zusammen mit der Berlinale und dem Goethe-Institut fast 10 Tage lang Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.
Der junge Daniel aus der Provinz kommt nach West-Berlin und trifft dort auf Clemens. Beide erleben die große Liebe, ziehen zusammen und versuchen, die bürgerliche Ehe zu kopieren. Nach vier Monaten trennen sie sich aber wieder, da Daniel inzwischen einen älteren, reichen Mann kennengelernt hat, in dessen Villa er einzieht. Wenig später betrügt ihn sein älterer Freund bei einem Musikabend mit einem anderen Mann. Für ihn war Daniel nur ein Lustobjekt. Daniel beginnt in einem Homosexuellen-Café zu arbeiten, kleidet sich nach der neuesten Mode und passt sich schnell an die Ideale der schwulen Subkultur an.
Das Medienecho auf den Film war enorm und hält im Grunde bis heute an. Die gesellschaftspolitischen Auswirkungen von Nicht der Homosexuelle ist pervers ... wurden ausgiebig besprochen: „Rosa von Praunheim ist einer der erfolgreichsten schwulen Filmemacher der Welt. Mit seinem Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von 1971 etablierte er sich als öffentlicher Wegbereiter der modernen Schwulenrechtsbewegung.“ (Akademie der Künste) „Es ist ein persönlicher Befreiungsschlag für Holger Mischwitzky [Rosa von Praunheim] - und ein Weck- und Mahnruf für alle homosexuellen Männer. [...] Mit dem Film wird Rosa von Praunheim quasi über Nacht zur Ikone der Schwulen- und Lesbenbewegung in Deutschland.“ (Deutsche Welle) Die Geschichtsprofessorin Dagmar Herzog schrieb in einem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung: „Die Bedeutung dieses Films für die Schwulenbewegung in der Bundesrepublik kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.“ Im Jahrbuch der Geschichte für Homosexualität des Fachverbandes Homosexualität und Geschichte heißt es: „Im deutschsprachigen Raum hat Rosa von Praunheims 1971 erschienener Film […] einen ähnlich ikonischen Charakter wie die Stonewall Riots in den USA.“ „Ein seltenes Beispiel für einen Film mit direkter gesellschaftspolitischer Wirkung.“ (Internationale Filmfestspiele Berlin) Sven Hauberg titelte in der Teleschau: „Der Skandalfilm, der Deutschland veränderte.“ Der US-amerikanische Filmkritiker Joe Hoeffner schrieb in einem Artikel über die weltweit wichtigsten Filme des queeren Kinos: „Viele Filme wurden als ‚revolutionär‘ bezeichnet, aber Nicht der Homosexuelle… verdient diese Beschreibung wirklich. Der Breakout-Film des Regisseurs und Aktivist[e]n Rosa von Praunheim (alias Holger Mischwitzky) wurde zum Fundament der deutschen Schwulenrechtsbewegung, und sein Aufruf zur Befreiung hallte durch die Geschichte des queeren Kinos.“
Es wurden aber auch Teilaspekte des Films hervorgehoben: „Ein zentraler Kunstgriff des Films war es, sich das Attribut ‚schwul‘ positiv anzueignen“, so der Südwestrundfunk. Dieser Kunstgriff wurde mit Erfolg gekrönt: „Mit dem Film bekam das kleine Wort ‚schwul‘ eine neue Bedeutung, etwa 90 Mal fällt es im deklamatorischen Kommentar des Stummfilms. Von da an eigneten sich in erster Linie junge Homosexuelle das einstige Schimpfwort als Kampfbegriff und stolze Selbstbeschreibung an.“ (Deutsche Presse-Agentur)
Neben den gesellschaftspolitischen Auswirkungen wurden auch filmische Qualitäten und Eigenschaften des Werks behandelt: „Im Vorgriff auf dies angestrebte neue homosexuelle Selbstbewusstsein hat der Regisseur darauf verzichtet, die Form seines Films den herrschenden Kino-Normen anzugleichen.“ (Der Spiegel) „Ganz im Stile der 70er Jahre ist dieser Film inzwischen ein filmisches Dokument der Schwulenbewegung und seiner Zeit. Wobei die filmische Experimentierfreudigkeit so manchen Aufführer verwirrt, da der u. a. eine 10-minütige stumme Szene hat! [Während des Cruising im Park] Auch als Dokument der Szene Anfang des siebten Jahrzehnts ist der Film bemerkenswert. Ohne Tabus zeigt er damals ungesehene Bilder von Schwulen auf Klappen oder im Park. Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt ist ein Zeitdokument, dessen Mut und Kraft auch heute noch beeindrucken.“ (Queerfilm.de, 2001) Der Erfolg des Films schob auch innerhalb der Film- und Fernsehbranche eine neue Bewegung an: Nicht der Homosexuelle ist pervers ... sei zweifellos der Urknall des deutschen New Queer Cinema gewesen, so Douglas Messerli, Filmkritiker und Literaturprofessor (World Cinema Review, 2021). „Ganz große Fernsehgeschichte.“ (Erwin In het Panhuis, Queer.de)